Über das Staunen über Lyrik flanieren
1
Im letzten Workshop war unser Ausgangspunkt das auch in der Ankündigung zu dieser Veranstaltung enthaltene Elke Erb-Zitat über das Staunen.
2
„nichts Absprechendes, Einschränkendes, nichts erledigend Einordnendes – sich vorbehaltlos einlassen.“ Den Gedanken, diesen Anspruch an die eigene Haltung wenn man sich mit einem Lyrikband beschäftigt, durchzuziehen, finde interessant. Wäre da nur nicht in und um Lyrikkritikerkreise dieser Wunsch vorherrschend, dass am Ende doch ein Urteil fällt.
3
Also einlassen ja, als einen ersten Schritt – hoffentlich – aber nur bis zu einem gewissen Grad bitte. Kriterien gibt es schon. Dann ordnen wir ein, bauen Hierarchien, schaffen Ordnung. Die Königsdisziplin ist dann doch der Verriss, ganz eventuell sein positives Gegenstück: die Lobrede.
4
In der scheint mir das Staunen auf das Anerkennen der technischen Meisterschaft hinauszulaufen. Wie ist der Dachstuhl gebaut, der die Konstruktion ermöglicht in der wir uns beim Lesen bewegen?
5
Wie könnte es sonst sein? Ich begebe mich auf die Suche nach Antworten anderswo: In Ausstellungen zeitgenössischer Kunst.
Im Vorbeigehen berührt werden und ein Foto machen. Und dieses Erlebnis dann weitergeben.
6
„Staunen“ kann ich nur als „ich“ und das Angebot machen, mir zu folgen. Oder es zumindest zur Kenntnis nehmen, dass das Staunen eine reale Möglichkeit ist.
7
Am Anfang steht ein aufmerksames Herumspazieren. Das Flanieren in weiblicher Gestalt gibt es doch, auch wenn darüber bisher wenig geredet wurde. Die Flaneuse oder Passante. … darf sich jetzt im öffentlichen Raum bewegen, auch ihre Blicke aufzeichnen.
8
Lässt sich mit der Beschreibung dieses Gestus eine Beziehung zwischen Lyrikband, vermittelnder Instanz und Lesern und Leserinnen etablieren? Eine, die etwas öffnet?
9
Wo verweile ich? Wohin zieht es mich zurück? Erstmal kein Fokus – verschwommene Offenheit – daran habe ich gedacht beim „ungehinderten Wahrnehmen und Ermessen“
10
Wie das Absichtslose, das offen ist für Überraschungen, wie das erhalten, da wo ich führen muss? Wo es ein Monolog werden soll, jedenfalls eine lange Rede am Stück?
11
Die Entscheidung zu treffen mich einzulassen. Für eine Zeit das eine besonders ansehen. Im Ausstellungsraum ist Anfassen nicht erlaubt. Aber wie resoniert das Material in mir? Ich könnte die Worte lesen und über den Stoff und die Fäden und die Materialien auch.
12
Man könnte die Fäden rausnehmen und sich ansehen wie sie eingefügt sind in das Gewebe. Kann das Ganze auseinandernehmen, es mir in Einzelteilen ansehen. Darin auf die Suche gehen nach Antworten – nach dem Charakter des Fadens, der alles durchzieht.
13
Und das dann alles referieren und so tun, als wäre es das? Welchen Grund gäbe es dann noch hineinzugehen? Wenn man die Liste und das Gutachten dazu einfach in Besitz nehmen und ins Regal stellen oder in die Schmuckschatulle legen kann.
14
Das was ich sehe anders kombinieren. Mit den Fäden rumspielen, sie herausziehen, abbrennen, weiterspinnen vielleicht? Es mir von allen Seiten ansehen
Auf welche Weise ist das gearbeitet?
15
Viele Gründe näher zu kommen.
Es wird heller wenn man dem Aufmerksamkeit schenkt. Mehr Spalt öffnet sich. Ich möchte eigentlich nicht beschreiben was dahinter ist, nur Interesse wecken, andeuten, dass es sich lohnen könnte, noch weiter zu gehen.
16
Was steht da weg oder an oder wurde nicht verarbeitet ist aber durchaus da an Faden? Verrät das Andere die Form oder macht es sie gerade lebendig?
17
Die Betonung eines Blicks, auch den Schatten zeigen, der darauf fällt. Es sind Blicke und Versatzstücke, die Bedeutung entfalten bei näheren Herantreten.
18
Und dabei erkennt man sich vielleicht auch wieder wie in einem Spiegel, aber nicht in einem wirklichen Spiegel, sondern in der Arbeit selbst: Beim Folgen des Fadens.
19
Tatsächlich ist es aber natürlich nicht so, dass die Tür sich nur öffnen kann wenn man sich auf entsprechende Weise verhält. Schließlich ist es eigentlich nur eine Wand und die Türgeschichte eine Projektion.
20
Einen Lyrikband kann man ja auch einfach im Freien lesen. Und Staunen auch.
(2020)
Olga Bedia Lang
Dieser Text ist 2020 für einen Vortrag am Haus für Poesie in Berlin entstanden. Er ist konzipiert in Hinblick auf das Zusammenspiel mit 20 Bildern, die jeweils 20 Sekunden projiziert werden. Die Aufzeichnung und weitere Informationen zum Hintergrund gibt es hier und auf der Seite lyrikkritik.de
Auf den Bilder sind unter anderem Arbeiten von Maria Lai, Vadim Fiskin, Hassan Khan, Carolee Schneemann und Giorgio Andreotta Calò zu sehen.
Über das Staunen über Lyrik flanieren
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Im letzten Workshop war unser Ausgangspunkt das auch in der Ankündigung zu dieser Veranstaltung enthaltene Elke Erb-Zitat über das Staunen.
2
„nichts Absprechendes, Einschränkendes, nichts erledigend Einordnendes – sich vorbehaltlos einlassen.“ Den Gedanken, diesen Anspruch an die eigene Haltung wenn man sich mit einem Lyrikband beschäftigt, durchzuziehen, finde interessant. Wäre da nur nicht in und um Lyrikkritikerkreise dieser Wunsch vorherrschend, dass am Ende doch ein Urteil fällt.
3
Also einlassen ja, als einen ersten Schritt – hoffentlich – aber nur bis zu einem gewissen Grad bitte. Kriterien gibt es schon. Dann ordnen wir ein, bauen Hierarchien, schaffen Ordnung. Die Königsdisziplin ist dann doch der Verriss, ganz eventuell sein positives Gegenstück: die Lobrede.
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In der scheint mir das Staunen auf das Anerkennen der technischen Meisterschaft hinauszulaufen. Wie ist der Dachstuhl gebaut, der die Konstruktion ermöglicht in der wir uns beim Lesen bewegen?
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Wie könnte es sonst sein? Ich begebe mich auf die Suche nach Antworten anderswo: In Ausstellungen zeitgenössischer Kunst.
Im Vorbeigehen berührt werden und ein Foto machen. Und dieses Erlebnis dann weitergeben.
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„Staunen“ kann ich nur als „ich“ und das Angebot machen, mir zu folgen. Oder es zumindest zur Kenntnis nehmen, dass das Staunen eine reale Möglichkeit ist.
7
Am Anfang steht ein aufmerksames Herumspazieren. Das Flanieren in weiblicher Gestalt gibt es doch, auch wenn darüber bisher wenig geredet wurde. Die Flaneuse oder Passante. … darf sich jetzt im öffentlichen Raum bewegen, auch ihre Blicke aufzeichnen.
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Lässt sich mit der Beschreibung dieses Gestus eine Beziehung zwischen Lyrikband, vermittelnder Instanz und Lesern und Leserinnen etablieren? Eine, die etwas öffnet?
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Wo verweile ich? Wohin zieht es mich zurück? Erstmal kein Fokus – verschwommene Offenheit – daran habe ich gedacht beim „ungehinderten Wahrnehmen und Ermessen“
10
Wie das Absichtslose, das offen ist für Überraschungen, wie das erhalten, da wo ich führen muss? Wo es ein Monolog werden soll, jedenfalls eine lange Rede am Stück?
11
Die Entscheidung zu treffen mich einzulassen. Für eine Zeit das eine besonders ansehen. Im Ausstellungsraum ist Anfassen nicht erlaubt. Aber wie resoniert das Material in mir? Ich könnte die Worte lesen und über den Stoff und die Fäden und die Materialien auch.
12
Man könnte die Fäden rausnehmen und sich ansehen wie sie eingefügt sind in das Gewebe. Kann das Ganze auseinandernehmen, es mir in Einzelteilen ansehen. Darin auf die Suche gehen nach Antworten – nach dem Charakter des Fadens, der alles durchzieht.
13
Und das dann alles referieren und so tun, als wäre es das? Welchen Grund gäbe es dann noch hineinzugehen? Wenn man die Liste und das Gutachten dazu einfach in Besitz nehmen und ins Regal stellen oder in die Schmuckschatulle legen kann.
14
Das was ich sehe anders kombinieren. Mit den Fäden rumspielen, sie herausziehen, abbrennen, weiterspinnen vielleicht? Es mir von allen Seiten ansehen
Auf welche Weise ist das gearbeitet?
15
Viele Gründe näher zu kommen.
Es wird heller wenn man dem Aufmerksamkeit schenkt. Mehr Spalt öffnet sich. Ich möchte eigentlich nicht beschreiben was dahinter ist, nur Interesse wecken, andeuten, dass es sich lohnen könnte, noch weiter zu gehen.
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Was steht da weg oder an oder wurde nicht verarbeitet ist aber durchaus da an Faden? Verrät das Andere die Form oder macht es sie gerade lebendig?
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Die Betonung eines Blicks, auch den Schatten zeigen, der darauf fällt. Es sind Blicke und Versatzstücke, die Bedeutung entfalten bei näheren Herantreten.
18
Und dabei erkennt man sich vielleicht auch wieder wie in einem Spiegel, aber nicht in einem wirklichen Spiegel, sondern in der Arbeit selbst: Beim Folgen des Fadens.
19
Tatsächlich ist es aber natürlich nicht so, dass die Tür sich nur öffnen kann wenn man sich auf entsprechende Weise verhält. Schließlich ist es eigentlich nur eine Wand und die Türgeschichte eine Projektion.
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Einen Lyrikband kann man ja auch einfach im Freien lesen. Und Staunen auch.
(2020)
Olga Bedia Lang
Dieser Text ist 2020 für einen Vortrag am Haus für Poesie in Berlin entstanden. Er ist konzipiert in Hinblick auf das Zusammenspiel mit 20 Bildern, die jeweils 20 Sekunden projiziert werden. Die Aufzeichnung und weitere Informationen zum Hintergrund gibt es hier und auf der Seite lyrikkritik.de
Auf den Bilder sind unter anderem Arbeiten von Maria Lai, Vadim Fiskin, Hassan Khan, Carolee Schneemann und Giorgio Andreotta Calò zu sehen.
Dieser Text ist 2020 für einen Vortrag am Haus für Poesie in Berlin entstanden. Er ist konzipiert in Hinblick auf das Zusammenspiel mit 20 Bildern, die jeweils 20 Sekunden projiziert werden. Die Aufzeichnung und weitere Informationen zum Hintergrund gibt es hier und auf der Seite lyrikkritik.de
Auf den Bilder sind unter anderem Arbeiten von Maria Lai, Vadim Fiskin, Hassan Khan, Carolee Schneemann und Giorgio Andreotta Calò zu sehen.